oder warum lohnt es sich manches Buch ein zweites Mal zu lesen? Warum lohnt es sich manchen Film ein zweites Mal zu sehen? Warum lohnt es sich, manches Seminar ein zweites Mal zu besuchen?
Alles ist im Fluss, d.h. zum Beispiel „man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“. Es bedeutet aber auch „Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu“. Wer ein Buch zum zweiten Mal liest, der hat sich selbst durch das erste Mal Lesen verändert. Wer es zum zweiten Mal liest dem wird beim zweiten Mal Lesen neues (anderes Wasser) Wissen, Verstehen und Erkennen offenbar werden. Mir ist dies besonders beim erneuten Anschauen des Museumstagsvideos bewusst geworden. Wenn ich mir mein Leben wie ein Museum vorstelle und jedem Tag einen Raum und jedem Moment ein Bild zuordne, dann waren die Räume, durch die ich meine Besucher früher geführt habe tendenziell dunkler und von einer schwereren Stimmung überlagert. Es war so als wären die Bilder, die die Museumstagsmomente zeigen, alle mit der Zeit nachgedunkelt und hätten einen feinen Firnis bekommen. Es war so als würde eine “Staubschicht“ die Farben überlagern und nicht mehr so hell erscheinen lassen. Wenn ich heute alleine durch diese Räume gehe, oder Besucher führe, dann ist das anders. Es ist es für mich heute so, als wären die Bilder vom Firnis befreit oder entstaubt, als würden die Farben wieder leuchten.
Wenn ich dann am Ende der Führung die Tür zu einem Raum öffne, der die Zukunft beherbergt, dann ist auch dies anders. Früher war da dieses gleißende, blendende Licht, das ich bei meinen ersten Besuchen im Museum meines Lebens kennenlernen durfte. Ich war so geblendet, dass ich nichts in dem Raum erkennen konnte. Heute ist es ein helles, aber mildes, weiches Licht, und es sind Konturen des Raumes erkennbar. Das Licht lässt den Raum heute einladender erscheinen. Was hat sich verändert seit meinen letzten Besuchen? Ich war schon einmal, zweimal, drei- und mehrmals in dem Raum, meist in kurzen Abständen. Da ist mir die Veränderung nicht so stark aufgefallen wie nun.
Meine Haltung, meine Wahrnehmung hat sich verändert. Mit einem größeren Abstand fällt diese Wahrnehmung deutlicher aus. Ich sehe die Museumstagsmomente** der Vergangenheit nun in einem anderen Licht. Ich erkenne ihre Bedeutung für die Zukunft in einer neuen, anderen Weise. Vieles was schwer und dunkel erschien ist nun klar und deutlich als ein Schritt in die richtige Richtung zu Erkennen. Panta Rhei! Alles fließt! Genauso geht es uns wenn wir ein Buch zum zweiten Mal lesen, einen Film zum zweiten Mal schauen oder ein Seminar zum zweiten Mal besuchen.
*Die Zitate/Redewendungen werden Heraklit zugeordnet.
**Die Idee vom Museumstag findest Du in „The Big five for Life“, von John P. Strelecky, dtv Taschenbuch, Seite 23 f. oder im Hörbuch, gelesen von Tilo Maria Pfefferkorn, Kapitel 6. Hier geht es zum Shop
© Tilo Maria Pfefferkorn, www.tilo-maria-pfefferkorn.com
Lieber Thilo,
mit dem Hinweis auf Panta Rhei hast du ein großes Problem angesprochen.
Bevor ich zu deinen Beispielen komme, ein paar Aussagen zur Herkunft des Begriffs und dem, was dahinter steckt.
Der Ursprung des Begriffes geht auf Heraklit zurück, der anscheinend von 2.600 Jahren ihn geprägt hat.
– Er soll die oberflächliche Realitätswahrnehmung und die daraus abgeleitete Lebensart der Menschen kritisieren.
– Er bezieht sich auf den natürlichen Prozess des beständigen Werdens und Wandels.
– Die Gedankenbeschreibung taucht im Laufe der Kulturen, im Laufe der Zeit immer wieder auf.
– Viele Denker und Philosophen habe sich damit beschäftigt.
– Eine kleine Auswahl der Denker, die sich mit dem Thema beschäftigt haben und auf die ich mich beziehen will, sind: Heraklit, Platon, Aristoteles, Lao Tse, Hegel, Marx, Fromm. Dies stellt keine repräsentative Auswahl dar.
Die meisten Menschen verwenden die sogenannte aristotelische Logik. Diese auf das Ausschlussverfahren gerichtete Logik arbeitet mit den Begriffen ” entweder – oder”. Kommt man in den Bereich eindimensionaler Phänomene, in den Bereich naturwissenschaftlicher Arbeitsweisen, ist die die “richtige” Denkweise.
Es gibt aber noch eine andere Logik. In dieser Form wird von paradoxer Logik geredet. Hegel und Marx verwenden ihn auch im Bereich der Dialektik. Hier ist das Denkmodell das “sowohl als auch”. Erich Fromm verwendet in seinem Buch ” Die Kunst des Lieben” 1956 anhand von Spruch 78 aus Tao-te-king von Lao Tse folgendes Beispiel: ” Das war eins ist, ist eins. Das was nicht eins ist, ist auch eins.”
Bezogen auf den Fluss heißt das, dass der Begriff Fluss einerseits für ein Phänomen steht, dass ich im Augenblick erlebe, aber auch dafür steht, was ich früher mit ihm erlebt habe und was ich später mit ihm erleben werde. Alle drei Erlebnisse können, obwohl es der gleiche Fluss ist, unterschiedlich ausfallen.
Unterschiedlich im Moment des Erlebens bewertet werden, unterschiedlich in der rückwärtigen Betrachtung und in der Projektion der Zukunft bewertet werden.
Das von dir ebenfalls angesprochene Phänomen der veränderten Sicht, je länger etwas her ist, ist auch richtig.
Betrachte ich heute meine Museumszimmer mit den Inhalten, Hüttenwerk, Zeche und Schule, so lässt sich feststellen, dass zu Anfang, als das jeweilige Kapitel abgeschlossen war, ziemlich traurige und düsterne Bilder zurückblieben.
– Das Hüttenwerk schloss, obwohl zu meiner Zeit dort 14.000 Menschen arbeiteten und lebten und eine Gemeinschaft bildeten.
– Die Zeche schloss, obwohl zu meiner Zeit dort 6.000 Menschen arbeiteten, lebten und sich sehr stark emotional eingebunden fühlten.
– Die Schule wurde zum Ende meines Berufslebens ( in der Spitze 900 Schüler und 50 Lehrer) geschlossen.
Heute weiß ich, auch diese Erfahrungen haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin.
Während ich früher traurig war, erscheinen mir die vergangenen Erlebnisse, wenn ich in die Zukunft schaue, nicht mehr ganz so trüb und bekommen verklärende Züge für die daraus folgende Zukunft.
In diesem Sinne Panta Rhei.