Neulich stellte mir ein Teilnehmer aus einem Seminar eine spannende Frage: „Was ist wichtiger, Mitgefühl oder Selbstmitgefühl?“ Er hatte für sich selbst erkannt, dass er bisher Konflikten eher aus dem Weg geht, weil das für ihn einfacher ist. So kann er immer sagen: „Ich habe gar keine Konflikte“. Aber was macht das mit uns, wenn wir Probleme immer unter den Teppich kehren?
Heute weiß ich, dass dies der triftigste Grund war, warum meine erste Ehe geschieden wurde. Wir waren das perfekte Paar, so kam es uns selbst lange vor. Doch was wir nicht taten war, über unsere Probleme zu sprechen und so wurde der Berg zumindest für mich größer und größer, bis ich ausgebrochen bin – ohne Konfliktbewältigung. Jahre später haben wir darüber gesprochen, was wirklich meine Ängste und Sorgen gewesen sind. Die Frage, warum ich damals nicht geredet habe, konnte ich nicht beantworten.
Wie ist das bei Dir? Welche Konflikte trägst Du in Dir? Welchen Panzer hast Du Dir um Dein Herz gelegt? Wie gehst Du mit Dir selbst um? Wie frei bist Du wirklich?
In dem Moment, wo wir unsere Gefühle nicht zulassen, schneiden wir uns von uns selbst ab. Das war mir lange nicht klar. Für mich griff ein Schutzmechanismus. Ich baute eine Mauer aus Glas um mich …
Freiheit bedeutet auch, Ängste und die eigene Verletzlichkeit anzuerkennen
Einer meiner wichtigsten Werte ist die Freiheit. Mein Zweck der Existenz lautet „Ich bin frei, ich selbst zu sein“. Und ich war zutiefst davon überzeugt, dass ich Freiheit auch lebe. Frei, mich selbständig zu machen, frei, allein zu leben, frei entscheiden zu können, frei überall hinzu-reisen.
Während meiner Ausbildung zum Seelencoach haben wir viel Aufstellungsarbeit gemacht und dabei eine Reihe eigener Themen geklärt. Unter anderem beschäftigten wir uns mit unseren eigenen Werten, die wir dann auch aufgestellt haben. Meine Werte zeigten sich als ein gutes stabiles Team. Nur die Freiheit scherte aus. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Boden und warf mir vor: „Du siehst mich nicht“. Wie aber konnte das sein? Hatte ich mich nicht durch die Entscheidung zum selbständig sein, auch automatisch für die Freiheit entschieden? Viel später erst habe ich für mich erkannt, dass Freiheit aktiv gelebt werden will. Vor allem Freiheit der eigenen Gedanken – viel zu sehr war ich innerlich noch mit: „Ich muss“, „Ich sollte“, „Es wird erwartet“ behaftet und habe mich unterbewußt danach ausgerichtet. Freiheit bedeutet auch, sich nicht nur seiner Werte und seiner Stärken bewußt zu sein, sondern auch die Ängste und die eigene Verletzlichkeit anzuerkennen und auch zeigen zu können.
Tatsächlich ist hierfür vor allem Selbstmitgefühl entscheidend und dazu gehört auch Mut. Denn Selbstmitgefühl bedeutet, sich selbst vollständig anzunehmen. Es bedeutet auch, sich offen und wertungsfrei dem eigenen Schmerz, Fehlern und Unzulänglichkeiten zuzuwenden. Zu verstehen, dass all diese Erfahrungen genauso zum Leben dazugehören, wie die glücklichen, erfolgreichen, fröhlichen Momente und das alles so sein darf, wie es ist.
Selbstmitgefühl bedeutet, sich selbst die Freundlichkeit und Fürsorge entgegenzubringen, die wir unserem besten Freund oder unserer besten Freundin schenken
Es ist so wichtig, freundlich mit sich selbst umzugehen. Studien haben ergeben, dass jeder Mensch circa 60.000 Gedanken am Tag denkt. 72% sind flüchtige, unbedeutende Gedanken, lediglich 3% unserer Gedanken sind aufbauend und 25% sind Gedanken, die uns schaden: Ich bin zu dick. Ich kann das nicht. Ich werde das niemals erreichen. Ich bin schuld …. So hart wie wir mit uns selbst umgehen, würden wir vermutlich niemals bei einem Freund oder einer Freundin reagieren.
Selbstmitgefühl zu haben, bedeutet, dass Du Dich selbst so behandelst, wie Du mit einem Freund oder einer Freundin umgehen würdest, die gerade eine schwere Zeit durchmachen – auch wenn sie etwas vermasselt haben, sich unzulänglich fühlen oder einfach vor einer schwierigen Situation im Leben stehen. Und ganz ehrlich, dass fällt uns doch viel einfacher, Mitgefühl mit anderen zu haben, liebevolle Worte zu finden, Trost zu spenden. Warum sollte uns dies nicht auch bei uns selbst gelingen?
Selbstmitgefühl ist eine Haltung, die erlernt werden kann und die aus drei Elementen besteht:
- Statt mit Dir hart in Gericht zu gehen, wenn Du glaubst, eine Schwäche an Dir zu erkennen, gib Dir selbst Unterstützung und schenke dir Wärme und Akzeptanz. Vielleicht hilft Dir ein Satz, den Du als Mantra in schwierigen Situationen verwenden kannst: „Das ist jetzt gerade schwierig“ oder „Ich darf Mitgefühl mit mir haben.
- Sieh, dass niemand perfekt ist und wir uns alle in ständiger Entwicklung befinden und dabei hin und wieder versagen. Dann wird es vielleicht einfacher, anzuerkennen „Es geht allen Menschen mal so“
- Achtsam mit Dir selbst zu sein. Das bedeutet auf der einen Seite, Deinen Schmerz zu sehen und anzuerkennen, um ihn mit Fürsorge und Liebe begegnen zu können und gleichzeitig Dein Leiden nicht aufzublähen und zu verallgemeinern. Klar zu unterscheiden, dass Du nicht generell ein Versager bist, weil Du vielleicht in einer Situation etwas vermasselt hast.
Um auf die Frage des Teilnehmers zurückzukommen: Was ist wichtiger, Mitgefühl oder Selbstmitgefühl? Beides ist aus meiner Sicht gleichermaßen wichtig. Doch wenn Du das Mitgefühl für Dich selbst stärkst, wird es leichter, eine mitfühlende Haltung anderen gegenüber einzunehmen. Denn dann wirst Du viel mehr in Deiner eigenen Kraft sein und kannst diese auch weitergeben.
Danke, für diesen Beitrag, dieser ist für mich in meiner jetzigen Verfassung die richtige Wegweisung.
Genauso handelte ich nach meiner ersten Trennung vor 4 Jahren nach 33 Jahren Ehe. Wohlgemerkt am Aufarbeiten meiner Schwachstellen arbeitend, habe ich diesen Aspekt wohl immer noch nicht bedacht. Denn, ich stelle fest, dass ich mich soeben aus einer jetzigen Beziehung, die ein Jahr bestand, wieder davon gemacht habe! Konflikten aus dem Weg zu gehen. Also, es geht nur über die Selbstliebe bzw. Selbstachtung und das von mir zu mir erbringende Werte- und Mitgefühl. Vielen Dank an Yvonne Simon.
Liebe Cari, herzlichen Dank für das Teilen deiner Gedanken und deine Offenheit. Ich glaube tatsächlich daran, wenn wir gut zu uns selbst sind und darüber mehr in unsere Mitte kommen, können wir auch tiefe Beziehungen pflegen, in denen es auch möglich ist, offen zu sein. Denn wenn wir zu uns selbst offen sind und anerkennen, wer wir sind und was uns ausmacht, können wir das in aller Schönheit und Verletzlichkeit auch nach außen zeigen. Das ist ein Prozess und auch ich bin noch immer mittendrin, doch ich bin überzeugt davon, es lohnt sich … Liebe Grüße Yvonne
Liebe Yvonne, ich teile Deine Gedanken uneingeschränkt. Wenn die Umsetzung nur nicht so schwer wäre. Schwer im Sinne vom ersten Schritt – wenn wir den meistern, uns trauen uns selbst zu lieben und freundlich zu uns zu sein, dann gelingen auch viele nachfolgende Schritte. Selbstmitgefühl hat eine wichtige Voraussetzung: dass ich mich auch fühlen kann, meine Befindlichkeiten und meine Gefühle spüre. Das klingt banaler als es ist, leider. Durch Achtsamkeitspraxis, durch Innehalten und in-mich-Hineinspüren komme ich hierbei voran.
Mich zu spüren, ehrlich zu mir zu sein, liebevoll wie zu jedem anderen Freund – damit tue ich mich noch immer schwer, insbesondere bei Menschen in meinem Leben, die sehr nah an mir dran sind, und bei denen ich mich doch nicht sicher und wirklich geborgen fühle. Mir selbst die Liebe und Fürsorge zu geben bedeutet in diesem Kontext: zu spüren wie es ist (dass ich mich eben nicht sicher fühle) und danach zu handeln – Ja, wie eigentlich? indem ich auf Distanz gehe? Indem ich “echte Nähe” einfordere (kann man das überhaupt)? Indem ich damit lebe und mir selbst gebe was ich brauche? und wenn das nicht geht: indem ich mir das woanders hole? Puh!
Liebe Dimitra, hab Dank für dein Vertrauen, deine Gedanken mit uns zu teilen. Bei dem Lesen deiner Zeilen ist mir Brené Brown durch den Kopf gegangen: “Das was uns verletzlich macht, macht uns schön. Mut zeigen und nicht perfekt zu sein. Lass die Idee los, wer du sein möchtest und sei einfach, wer du bist” Ich weiß, dass klingt so einfach und ist doch so schwer – insbesondere, wenn du dich in deinem Umfeld nicht sicher und geborgen fühlst.
Warum mag das so sein, das du dich in manchen engen Beziehungen nicht sicher und geborgen fühlst? Ganz oft gehen wir keine Risiken ein, zeigen uns nicht verletzlich, weil wir Angst haben, vor der Reaktion der anderen und uns ein Schamgefühl befällt, “nicht gut genug zu sein”. Das verrückte daran ist, das geht den meisten von uns so und trotzdem trauen wir uns nicht. Vielleicht ist es einen Versuch wert, den ersten Schritt zu gehen: Frei nach Julia Engelmann “Lass uns mal demaskieren und sehen, wir sind die gleichen”. Eine Variante zu “Echte Nähe einfordern” könnte sein, über deine Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen und den Anderen zu bitten, dir zuzuhören und es dir gleichzutun. Vielleicht benötigt der Andere dein Mitgefühl?
Vielleicht hast du das alles längst versucht und an der Situation hat sich nichts geändert. Und wenn Akzeptanz der Umstände nicht mehr hilft, um Widerstände loszulassen, dann gehört vielleicht wirklich der Mut dazu, das Umfeld loszulassen.. Schritt für Schritt – in deinem ganz eigenen Tempo.
Um noch mehr in Selbstmitgefühl und Mitgefühl zu kommen, kann dich die Metta-Meditation unterstützen, von der ich weiß, dass du sie schon in dein Leben integriert hast. Alles Liebe für dich, Yvonne
Liebe Yvonne,
mich haben Deine Worte in der Seele erreicht, danke dafür! Es läuft darauf hinaus für mich ehrlich zu klären:
a) zeige ich mich wirklich wie ich bin? Wenn nein: warum, wann und bei wem nicht, was steckt dahinter?
und b) habe ich wirklich alles versucht, mich meinen nahe stehenden Menschen zu zeigen und zu erklären? Ja, in der Tat habe ich schon viel probiert, um die Situation zu ändern, und neben weiteren Ent-täuschungen kam nichts dabei heraus. Brené Brown macht Mut: mich verletzlich zu zeigen, zu meiner Verletzlichkeit zu stehen, die Scham vor dem “Versagen” außen vor zu lassen. Wohl wissend, dass ‘mich verletzlich zu machen und zu zeigen’ auch bedeutet, eventuell verletzt zu werden von Menschen die damit nicht umgehen können und die sich ihrerseits nicht öffnen können oder wollen..
Also werde ich versuchen, aus meinem Herzen heraus zu kommunizieren mit diesen Menschen, ‘meine Wahrheit zu sprechen’ wenn Du so willst, und vor allem auch explizit ihrerseits Offenheit über die Beziehung einfordern. Ich gebe also meine 50% in die Beziehung, das Gegenüber sollte seine 50% dazu geben… und wenn nicht, dann nehme ich das ernst und nehme es an, damit das Leben wieder leichter und ich wieder glücklicher werden kann. Meiner Intuition, meinem inneren Gefühl zu vertrauen ist dann der wohl wichtigste Schritt, um gut für mich zu sorgen und mir selbst beizustehen…
Liebe Yvonne, du hast mir aus der Seele gesprochen. Auch ich habe ähnliches mitgemacht. Als junger Mann , der sich stark für andere Menschen engagierte, habe ich immer darauf geachtet, “frei zu sein”. Je öffentlicher mein Engagement im politischen und/oder studentischen Bereich wurde, um so mehr musste ich Stellung zu meinem Wunsch nehmen, “frei zu sein.”
In der Hochzeit des Engagements während meiner diversen Studien kamen Angebote für Tätigkeiten im Hochschulbereich, als “Gewerkschaftssekretär”, als hauptamtlicher Mitarbeiter in anderen Verbänden und Organisationen, als Geschäftsführer selbst mitgegründeter GmbH´s etc.
Aber immer zweifelte ich, ob ich mich damit nicht abhängig machte und meine “Freiheit” verlöre. Konsequenz: Ich habe all diese Angebote abgelehnt, mich wieder verstärkt um den Studienabschluss gekümmert und habe mich dann als Pädagoge engagiert, ohne verbeamtet zu sein. Das kam später. Ich habe mich versteckt hinter der Fassade eines “Allwissenden”, der nicht sehr offen mit dem umging, was ihn wirklich umtrieb.
Ganz anders war ich hinter der verschlossenen Klassentür.. Hier hat mir auch Offenheit, Achtsamkeit, Mitgefühl und Engagement für die Schüler, auch auch die Kollegen, das Leben, das Erleben, ein Glücksempfinden gebracht.
Eine Schülerin brachte es mal auf den Punkt mit folgender Aussage: “Je näher sie ihrem Büro( als Schulleiter) sind, um so kürzer sie in in Antworten und um so technokratischer im Handeln. Ich möchte sie lieber in der Klassengemeinschaft agieren sehen.”
Mittlerweile habe ich verstanden, was diese Schülerin mir damit signalisieren wollte.
Seitdem ich Witwer bin, pensioniert bin, meine Befindlichkeiten und meine Gefühle erkenne und auch richtig einsortieren kann, fühle ich mich insgesamt wieder wohler.
Ich habe mich geöffnet, verstecke mich nicht mehr hinter der früheren Fassade. Damit habe ich auch Sicherheit gewonnen und kann nur jedem empfehlen, traut euch auf andere Menschen zu zugehen, eure “Unsicherheit” zu überwinden.
Nur wenn ihr dies tut, seid ihr euch selbst ein guter Freund und werdet auch bei anderen fühlen, wonach ihr euch sehnt.
Yvonne, danke für deine Zeilen.
Simon
P.S. Als Ergänzung hier die letzte Strophe des Gebetes von Theresa von Avila:
“Lehre mich, an anderen unerwartete Talente zu entdecken,und verleihe mir, o Herrn, die schöne Gabe, es ihnen auch zu sagen.”
Lieber Simon, hab Dank für deine so wunderbaren Worte. Besonders mit: “Ich habe mich geöffnet, verstecke mich nicht mehr hinter der früheren Fassade. Damit habe ich auch Sicherheit gewonnen und kann nur jedem empfehlen, traut euch auf andere Menschen zu zugehen, eure “Unsicherheit” zu überwinden.
Nur wenn ihr dies tut, seid ihr euch selbst ein guter Freund und werdet auch bei anderen fühlen, wonach ihr euch sehnt” gehe ich so sehr in Resonanz. Ja, es gehört Mut dazu, sich zu zeigen und gleichzeitig ist es so wertvoll. Und ja, die Worte aus dem Gebet von Theresa von Avila sind der Grund, warum ich Lebensmutmacherin und Reisebegleiterin geworden bin, weil es für mich nichts schöneres gibt, als anderen den Reichtum in sich zu zeigen. Jeder Mensch hat soviel eigenes besonderes Potenzial in sich und findet trotzdem nur schwer den eigenen Weg weil er sich seiner eigenen Stärken, Werte und seinem Lebenssinn nicht bewußt ist oder ihm der Mut fehlt, diese zu leben. Diese ans Licht zu holen macht mich glücklich.